Tuesday, 7th May 2024
7 Mai 2024

Odenwaldschule: Alles war noch viel schlimmer

Zwei neue Studien haben die an der Odenwaldschule seit den 1960er-Jahren praktizierte sexualisierte Gewalt untersucht.

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WIESBADEN – Der tiefe Fall der Odenwaldschule, der Zusammenbruch eines Gebildes, das jahrzehntelang als vermeintlicher Leuchtturm der Reformpädagogik einen herausragenden Stand hatte: Für Hessens Sozialminister Kai Klose (Grüne) ist die Ursache dafür auch in einem „Versagen staatlicher Stellen“ zu finden, die nicht hingehört hatten, als ihnen vom sexuellen Missbrauch an der Internatsschule berichtet worden war. Er bitte daher als verantwortlicher Minister um Verzeihung, so Klose. Dabei hat er wohl am wenigsten Verantwortung für das Versagen: Als Minister ist er erst seit 18. Januar im Amt. Aber er hatte jetzt zur Präsentation von zwei Studien geladen, die die massenhaft verübte sexualisierte Gewalt an Schülern aufgearbeitet haben. Die eine stammt aus München und liegt bereits gedruckt vor. Die andere, aus Rostock, wird erst demnächst erscheinen. Man habe die Studien „schnellstmöglich“ der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen, so Klose. „Wir wissen, dass die Betroffenen lange darauf gewartet haben“.

Mehr als 450 laufende Meter Akten, mehrere Hundert Pläne sowie 50 000 Bilder, Audio- und Videokassetten haben die Autoren der beiden Studien bearbeitet, ehemalige Schüler und Lehrer interviewt. Und was sie herausgefunden haben, übersteigt das bislang bekannte Grauen noch deutlich. Es habe 132 Opfer gegeben, hatte eine Vorgänger-Studie schon 2010 bilanziert. Es hatte seit den 1960er-Jahren bis in die späten 80er eine mittlere bis hohe dreistellige Zahl von Opfern gegeben, so die erschütternde Bilanz, die jetzt gezogen werden muss. Und noch in den 90er-Jahren war es zu Missbrauch gekommen, war der Verdacht sexualisierter Gewalt laut geworden. Frank G. etwa war zwischen 2011 und 2014 Lehrer an der Odenwaldschule: Beschuldigungen gegen ihn wegen übergriffigen Verhaltens waren 2013 erstmals aktenkundig geworden. „Die Schulleitung ging den Vorwürfen zwar nach, handelte allerdings nicht entschlossen“, so Brachmann. Verurteilt wurde der Mann wegen massenhaften Besitzes von kinderpornografischem Material. Die Reaktion der Öffentlichkeit sei verheerend gewesen, „das Unverständnis über einen neuerlichen Fall massiver Grenzüberschreitung an der als Täterorganisation bereits hinlänglich bekannten Schule nachvollziehbar groß“.

Nach oben korrigiert werden muss auch die Zahl der Täter, die voneinander wussten, sich gegenseitig deckten. „Nach Akten mehr als zwei Dutzend“, sagt der Rostocker Professor Jens Brachmann. Sie entstammten oft der Wandervogelbewegung, waren Pfadfinder gewesen. „Pädagogisch qualifiziert waren sie nicht“. Unter ihnen fünf Frauen, die Grenzen überschritten hätten. Mindestens zwei der Täter leben bis heute, ohne strafrechtliche Konsequenzen gespürt zu haben.

Ohne eine Lehramtsausbildung absolviert zu haben, hatte Gerold Becker an der Odenwaldschule unterrichtet, hatte sie seit 1972 und bis 1985 geleitet. Der „Haupttäter“ hatte das eingeführt, was Bachmann das „System Becker“ nennt, ein „Tätersystem“, das erst „durch den Flankenschutz der Kultureliten der alten Bundesrepublik“ möglich gewesen sei.

„Ort der pädagogischen Verwahrlosung“

Florian Straus vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München spricht von einem „selbstherrlichen System“, das die jahrzehntelang praktizierte sexuelle Ausbeutung ermöglicht habe. Für ihn war die 2015 geschlossene Odenwaldschule ein „Ort der pädagogischen Verwahrlosung“, an der zu viele unausgebildete und überforderte Lehrer gearbeitet hatten.

Viele, die Opfer sexualisierten Missbrauchs geworden waren, leiden darunter noch heute. An den Jahrzehnten des Schweigens seien einige zugrunde gegangen, so Straus. Missbrauchte Schüler hätten sich ihren Eltern anvertraut, die das nicht hatten wahrhaben wollen. Oder die ihre Kinder von der Schule nahmen, ohne Jugendämter, Schulaufsicht oder Staatsanwaltschaft über die Missstände zu informieren. Doch Straus müht sich auch um eine differenzierte Betrachtung. Es habe eine große Zahl gelungener Biografien gegeben. An der Odenwaldschule hätten auch engagierte Lehrer unterrichtet.

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