Wednesday, 20th March 2024
20 März 2024

Therapien verhindern Ansteckung: Ein Leben mit Familie und HIV ist möglich

Franziska Borkel tritt für Aufklärung ein.


Ungeschützter Sex, Schwangerschaften und sogar natürliche Geburten sind trotz einer HIV-Infektion möglich. Das wissen allerdings nur wenige. Wieso das geht und wie ein Leben mit HIV und Familie funktioniert, erzählt eine, die den Mut zu allem hat.

Wenn die Jungs Blödsinn machen und die Kleine sich das abguckt – dann könnte Franziska Borkel manchmal die Wände hochgehen. Dreijährige Zwillinge hat sie und eine einjährige Tochter. "Die drei sind eine größere Herausforderung als mein Leben mit HIV", sagt die 35-jährige Mutter schmunzelnd. Ihre Kinder, der ganz normale Alltagswahnsinn, das bringe sie manchmal an den Rand der Erschöpfung. "Aber es frisst mich nicht auf. Ich bin glücklich. Ich bin eine von vielen Frauen in Deutschland, die mit HIV leben und sich ihre Träume erfüllen."

Gegen ihre Krankheit nimmt Franziska Borkel zwei Tabletten am Tag. Damit wird das Virus so stark unterdrückt, dass sie weder ihren Mann noch die Kinder anstecken kann. Eine normale Lebenserwartung, keine Einschränkungen im Alltag, Sex ohne Kondom und natürliche Geburten – all das ist unter einer wirksamen Therapie heute möglich. Nur wer weiß das? Zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember will eine Kampagne der Deutschen Aids-Hilfe beleuchten, was wirksame Therapien heute für die geschätzt rund 86.000 Menschen bedeuten, die in Deutschland mit HIV/Aids leben – davon rund 17.000 Frauen.

Heilbar ist die Infektion bis heute nicht. Doch seit rund 20 Jahren lässt sich HIV bei rechtzeitiger Diagnose mit Therapien als chronische Krankheit behandeln. Ende 2017 machte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine repräsentative Umfrage zu HIV. Nur jeder zehnte Interviewte wusste, dass das Virus unter erfolgreicher Behandlung nicht ansteckend ist.

Therapie macht Virus nicht übertragbar

Dabei machte schon vor zehn Jahren eine Einschätzung der Schweizer Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen Schlagzeilen. Sie trug Belege dafür zusammen, dass das HI-Virus unter wirksamer Therapie nicht übertragbar ist. "Das war eine Aussage wie ein Tabubruch", erinnert sich Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für HIV-Forschung am Uni-Klinikum Essen. Und ein Wendepunkt. "Denn das heißt ja, es ist sicherer, mit einem HIV-positiven Menschen unter Therapie Sex zu haben als mit jemandem, der sich nicht hat testen lassen", ergänzt Streeck.

Heute ist durch große Untersuchungen bewiesen, dass die Schweizer Recht hatten: HIV ist unter wirksamer Therapie nicht ansteckend. "Das können wir so bestätigen. Das deckt sich mit unserer Einschätzung", sagt Uwe Koppe, HIV-Experte am Robert-Koch-Institut (RKI). Er zitiert Studien mit hetero- und homosexuellen Paaren, in denen ein Partner HIV-positiv und der andere nicht infiziert war. "Unter wirksamer Therapie kam es bisher zu keiner Übertragung", fasst er zusammen. "Das ist eine tolle Botschaft. Weil Sex mit so viel Angst verbunden war und mit der Stigmatisierung von HIV-Positiven. Heute können sie sogar Kinder zeugen."

Sogar Klinikpersonal weiß nicht immer Bescheid

Doch selbst in Krankenhäusern herrschen ohne sexuellen Zusammenhang manchmal bis heute völlig irrationale Infektionsängste. "Ich habe bei einem Sportunfall einen Hockeyschläger ins Gesicht bekommen", berichtet Franziska Borkel. "Als Jahre später mein Kiefer deshalb erneut in einer Klinik geröntgt werden sollte, haben sie auf meine Krankenakte panisch mit rotem Filzstift 'HIV' geschrieben." Damit saß sie dann im Wartezimmer. "So etwas macht traurig und einsam."

Und wütend. "Der Röntgenapparat und die Fachkräfte haben ja weder ungeschützten Sex mit mir, noch werden sie sich und mich gleichzeitig aufschlitzen." Borkel begann, sich in der Aids-Hilfe für Aufklärung zu engagieren – und dafür auch ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Sie bekam ihre HIV-Diagnose mit 16. Danach waren regelmäßige Blutchecks für sie selbstverständlich. Leicht war das später in Studium und Beruf nicht immer zu organisieren, denn die Umweltwissenschaftlerin lebte auch in Marokko und Nepal. Mit einer HIV-Therapie begann sie mit Mitte 20 in Spanien. "Heute würde man früher anfangen. Das war eine andere Zeit", urteilt sie im Rückblick.

Mut zur Familiengründung

Kondome waren für sie seit der Diagnose erst einmal selbstverständlich. Ablehnung in Liebesdingen habe sie nie erfahren, wenn sie über ihre Infektion sprach, sagt sie. "Nachdenklichkeit schon. Und die Bitte, über HIV erst einmal in Ruhe nachlesen zu dürfen." Oder vor dem Weglassen von Kondomen einen Arzt zu fragen. Mit dem Wunsch nach Kindern stellten sich für sie und ihren Mann neue Fragen: Nach dem Übertragungsrisiko bei Schwangerschaft und Geburt und den Auswirkungen der Medikamente auf das ungeborene Kind. "Als wir uns sicher waren, dass kein Risiko besteht, haben wir die Familiengründung gewagt."

Doch erneut sah sie sich in Krankenhäusern mit Unwissen konfrontiert. Kliniken in Baden-Württemberg, wo sie damals lebte, wollten eine HIV-positive Frau unter Therapie nur mit Kaiserschnitt entbinden. "Obwohl in den ärztlichen Leitlinien stand, dass die vaginale Geburt empfohlen wird", sagt Franziska Borkel. Denn Therapien haben auch für Geburten viel verändert: Ohne HIV-Übertragungsrisiko wiegt der Nutzen eines tiefen Schnitts in den Bauch mögliche Komplikationen dadurch nicht mehr auf.

In Frankfurt (Main) gab es bei Fragen nach natürlicher Geburt kein Problem. Doch es war Winter. Franziska Borkel hatte Sorge, dass sie es bei Eis und Schnee nicht rechtzeitig in die Klinik schafft. Drei Wochen lebte sie in einer Frankfurter Jugendherberge nahe der Klinik, weil sie nur so sicher sein konnte, spontan und ohne Kaiserschnitt entbinden zu können. Da war die Wut wieder da. Sie beschwerte sich gemeinsam mit der Kontaktstelle für HIV-bezogene Diskriminierung. Heute laufe das auch im Süden anders, sagt sie.

Die jüngste Geburt in Berlin erschien ihr leicht. "Es gibt in großen Städten ein Paralleluniversum der HIV-Versorgung. Ohne Diskriminierung", sagt sie. Ihre Tochter hat Franziska Borkel gestillt, obwohl das Baby dann ein paar Monate länger über die Muttermilch Rückstände von Medikamenten gegen HIV bekam. Leitlinien empfehlen das Stillen noch nicht. "Sie dulden aber in Einzelfällen ein medizinisches Begleiten der Mutter", berichtet Borkel. Sie fand Stillen wichtig. "Bei den Zwillingen habe ich mich das noch nicht getraut." Ihre Erfahrungen fließen nun in eine Doktorarbeit zu HIV-positiven Müttern in Deutschland ein, die unter Therapie stillen. Vielleicht kann daraus ein weiterer Baustein werden für Freiheiten, die wirksame Therapien möglich machen.

Wenig Wissen über HIV

"Es ist gut, dass HIV heute nicht mehr so skandalisiert wird", sagt RKI-Experte Koppe. "Aber dadurch kommen neue Erkenntnisse natürlich auch weniger in die Köpfe." Laut der Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zögerte im vergangenen Jahr immer noch fast jeder siebte, HIV-positive Menschen zu umarmen. Dabei bestand bei Umarmungen noch nie ein Infektionsrisiko. Selbst bei ungeschützten sexuellen Kontakten liegt es niedrig – aber es besteht.

Die Deutsche Aids-Hilfe wertet die bisherigen Erfolge durch Therapien als Entlastung für Betroffene. "Die meisten Menschen empfinden es als belastend zu wissen, dass sie andere mit HIV anstecken können", sagt Sprecher Holger Wicht. "Genau deswegen sollen möglichst viele Menschen erfahren, dass HIV unter Therapie nicht übertragbar ist." Das nehme Ängste und trage zu einem erfüllten und entspannten Sexleben bei, besonders häufig in festen Beziehungen mit einem HIV-positiven und einem nicht-infizierten Partner.

Verbunden ist mit der Botschaft auch die Hoffnung, dass sich mehr Menschen auf HIV testen lassen und bei positivem Ergebnis eine Therapie beginnen. Denn noch immer leben geschätzte 11.400 Bundesbürger ohne Diagnose mit HIV. Sie können andere anstecken. Rund 68.800 bekommen eine Therapie, die das Virus unterdrückt – und damit Übertragung ausschließt.

Ihren Kindern erklärt Franziska Borkel HIV altersgerecht, soweit sie es verstehen können. "Ich glaube nicht, dass sie Diskriminierung trifft. Wenn es für mich angstfrei ist, dann ist es das für meine Kinder genauso."

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