Friday, 19th April 2024
19 April 2024

Wie viel Umverteilung darf es denn sein?

Wo schon lange kein Zug mehr hält. Wo das Freibad geschlossen ist, weil die Stadt kein Geld hat. Da will die Bundesregierung helfen. Denn die Parteien haben gemerkt, dass Wähler oft nicht interessiert, wer schuld ist an ihrer Misere – Bund, Land oder Kommune.

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Berlin (dpa) – «Deutschlandatlas – Karten zu gleichwertigen Lebensverhältnissen» heißt die neue Datensammlung. Sie soll der Bundesregierung helfen herauszufinden, wo die Bürger der Schuh am stärksten drückt.

In Gegenden, in denen jeder Dritte von Hartz IV lebt und die Funklöcher größer sind als die Chancen der Kinder, die hier geboren werden. Es wäre vielleicht ehrlicher gewesen, man hätte für diese Vermessung der Bundesrepublik einen anderen Titel gewählt. Zum Beispiel «Karten zu ungleichwertigen Lebensverhältnissen».

«Natürlich hat man Fehler gemacht in der Vergangenheit, sonst hätte es diese Kommission nicht gebraucht», sagt Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU). Sie betont auch heute wieder mehrfach, dass sie ja für die Förderung des ländlichen Raums zuständig sei. Jedes Mal, wenn sie das sagt, rutschen die Mundwinkel von Heimatminister Horst Seehofer (CSU) nach unten. Zwischen ihnen strahlt Familienministerin Franziska Giffey (SPD). Sie sagt, sie freue sich, dass die Kommission eine Verlängerung der Kita-Förderung des Bundes beschlossen hat.

Giffey lobt, dass es jetzt eine staatlich finanzierte Stiftung für Engagement und Ehrenamt geben soll, die ihren Sitz irgendwo in Ostdeutschland haben soll. Denn auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo Staat, Partei und Betrieb früher weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kontrolliert und organisiert haben, sind nur 16 Prozent der Vereine beheimatet. Das soll sich ändern. Auch – aber das sagt hier keiner – damit die Bürger nicht zu Populisten überlaufen, die sie in ihrem Gefühl des «Abgehängtseins» noch bestärken.

Seehofer will die Menschen herausholen aus diesem Gefühl, es nicht geschafft zu haben und dafür vielleicht auch noch vom Rest der Republik verächtlich gemacht zu werden. Er sagt, «in den allermeisten Fällen» resultiere die «Strukturschwäche» nicht aus eigenem Verschulden, sondern auch wirtschaftlichen oder historischen Veränderungen. Das reicht von der Konkurrenz durch Stahl aus China bis hin zu den Spätfolgen des «Arbeiter-und-Bauern-Staats», in dem nicht jeder den Beruf erlernen durfte, der seinen Interessen entsprach.

Der «Deutschlandatlas» zeigt: Im Osten Sachsen-Anhalts, im nördlichen Brandenburg und im Nordwesten von Niedersachsen haben 2017 besonders viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Während das in Mainz und Darmstadt nur bei weniger als drei Prozent der Schüler der Fall war, lag der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss in Chemnitz, Ludwigshafen am Rhein und Eisenach sowie in den Landkreisen Sonneberg und Jerichower Land zwischen 13 und fast 17 Prozent.

Der Ausländeranteil ist im gesamten Osten niedrig. Doch nirgends leben so wenige Zuwanderer wie in Bautzen und im sächsischen Erzgebirgskreis. Hier erreicht der Anteil an der Bevölkerung kaum zwei Prozent. In Boom-Städten wie München und Frankfurt am Main, in Pforzheim und Offenbach hat dagegen jeder dritte bis vierte Einwohner keine deutsche Staatsbürgerschaft.

Die meisten Wohnungseinbrüche verzeichnete die Polizei in Hamburg, Delmenhorst, Mühlheim an der Ruhr, Bonn, Dortmund, Bremen und Neumünster. Hier waren es zuletzt jeweils etwas mehr als 250 bis 310 Fälle pro 100 000 Einwohner. Die gemessen an der Einwohnerzahl geringste Zahl an Einbrüchen gab es in Bayern, Thüringen, im Osten und Süden von Baden-Württemberg sowie in Teilen Mecklenburgs und in Sachsen – mit Ausnahme der Region an der polnischen Grenze.

Und noch ein interessantes Detail verrät der Atlas: In den Regionen Brandenburgs, in denen die Fahrtzeit mit dem Auto bis zur nächsten Polizeistation für viele Menschen bei über 30 Minuten liegt, ist auch die Zahl der Einbrüche relativ hoch – wenn auch bei weitem nicht so hoch wie in Berlin.

Die Karten, die das Bundesinnenministerium jetzt online gestellt hat, zeigen auch: Zur Wahl gehen nicht unbedingt die Bürger, die mit den größten Problemen zu kämpfen haben. Im Gegenteil: In Bayern, wo es vielen Menschen materiell gut geht, ist die Wahlbeteiligung viel höher als in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Doch Bayern ist nicht in jeder Hinsicht ein Musterland. Beim Kitaplätze-Angebot und bei der Erreichbarkeit des öffentlichen Nahverkehrs hinkt das Auto-Land Bayern vielen ostdeutschen Regionen hinterher. Nur in Mecklenburg-Vorpommern müssen noch mehr Menschen lange laufen bis zur nächsten Bus- oder Bahnhaltestelle.

Darauf, einen «Deutschlandatlas» zu präsentieren, der alle «Problemzonen» in einer einzigen Karte zeigt, hat Seehofer verzichtet. Vielleicht wollte er niemandem den Eindruck vermitteln, er lebe am schlechtesten Ort in Deutschland. Oder man wollte verhindern, dass Problem-Kommunen dann mit der Statistik im Rücken nach mehr Hilfe vom Bund rufen. Denn es gibt Kräfte, die von allzu viel Solidarität nichts halten. Kurz bevor Seehofer in Berlin mit seinen Kabinettskolleginnen die Ergebnisse der Kommission «Gleichwertige Lebensverhältnisse» vorstellt, meldet sich sein einstiger Erzrivale, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. In einem Zeitungsinterview betont er, eine Umverteilung zu Lasten der starken Regionen dürfe es nicht geben.

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