Saturday, 20th April 2024
20 April 2024

Deutschsein ist kein Zuckerschlecken: Die trockenen Lippen der Germanisten

Goethe, Schiller, Kleist, Hesse, Thomas Mann – Zhang Danhong fühlte sich im Germanistik-Studium wie ein Fisch im Wasser. Doch in China befassen sich Germanisten mit weit mehr als nur deutschsprachiger Literatur.

An der renommierten Peking-Universität wurden wir Germanisten regelmäßig von den Anglisten und Romanisten aufgezogen: „Ihr habt alle so trockene Lippen. Das liegt bestimmt an der Härte der deutschen Sprache.“ Oder: „Ihr habt schon erste Ansätze von Denkerfalten. Kein Wunder, Ihr setzt Euch ja mit einer Denkernation auseinander.“ Und ein Blick in den Spiegel zeigte: Sie hatten recht!

Meine Erklärung für das erste Phänomen sieht folgendermaßen aus: Die deutsche Sprache ist in der Tat nicht so geschmeidig wie Englisch oder Französisch. Während bei „das Auge“ das Wort „Auge“ klar getrennt von seinem Artikel „das“ ausgesprochen wird, tendieren die beiden Wörter „the eye“ dazu, beim Sprechen miteinander zu verschmelzen. Auch dadurch werden Englisch oder Französisch eher als rund empfunden, während Deutsch sich geradezu eckig anfühlt. Für uns Chinesen, für die alle europäischen Sprachen eine große Umstellung beim Sprechen bedeuten, werden bei einer „eckigen“ Sprache die Lippen enger gezogen, wodurch sie leicht rau werden oder gar aufspringen.

Ich, die die deutsche Sprache auf Anhieb mochte und von daher nicht als ganz unbefangen gelten kann, sehe in der klaren Trennung der Wörter eher einen Vorteil: Sie erleichtert das Hörverständnis. Als wir 1985 die bekannte Rede von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa vom Hören (aus dem Programm der Deutschen Welle) direkt ins Chinesische übersetzten, war ich nicht nur für seine kristallklare Aussprache dankbar, sondern auch für die Standhaftigkeit der einzelnen deutschen Wörter, die einander nicht in die Arme fallen und so das Verstehen für Nichtmuttersprachler leichter machen. Gegen trockene Lippen helfen übrigens Sprech- und Trinkpausen.

Schwere Kost, aber köstlich

Gegen Denkerfalten kann man sich weniger wappnen. Die deutschsprachige Literatur basiert nun mal auf philosophischem und daher abstraktem Denken, das die Lektüre oft zu schwerer Kost macht. „Faust“ zum Beispiel ist ein philosophisches Werk, das sich mühsamer liest als ein Liebesdrama wie „Jane Eyre“. Bleibt man aber dran, wird man belohnt mit auf den ersten Blick eher beiläufigen Versen, die aber nach einem kurzen Moment des Nachdenkens Begeisterungsstürme (zumindest bei mir) auslösen, wie zum Beispiel „Es irrt der Mensch, solange er strebt“. Oder zarte Liebeszeilen über die Gefühle von Gretchen („Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer, und nimmermehr…“), die so wohltuend wirken in der ansonsten schwermütigen Tragödie. Sie sind quasi der Labello für die aufgesprungenen Lippen.

„Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion?“ – hier in Marthens Garten wurde die Gretchenfrage gestellt

Diese Zeilen hat Franz Schubert 1814 zum Lied „Gretchen am Spinnrade“ vertont. Dem Komponisten ist es zu verdanken, dass einige deutsche Gedichte kaum noch rezitiert, sondern nur noch gesungen werden, so wie das „Heidenröslein“ von Goethe („Sah ein Knab‘ ein Röslein stehen, Röslein auf der Heiden, war so jung und morgenschön, lief er schnell es nah zu sehen, sah’s mit vielen Freuden.“) Mit seiner sonoren Stimme gab der bekannte Germanist Yan Baoyu dieses Lied in einer unserer Vorlesungen zum Besten.

Manche behaupten, dass es der deutschen Sprache durch die historische Kleinstaaterei und biedere Mentalität der Menschen an Witz und Charme mangele und sich die geistreichen Deutschen deswegen ins Abstrakte wie Philosophie oder Musik flüchteten. Meine These ist eher umgekehrt: Die besonders bei den Deutschen ausgeprägte Fähigkeit zum philosophischen und abstrakten Denken hat so viele bedeutende Komponisten und Geistesgrößen hervorgebracht wie in keinem anderen Land. Im Land der Dichter und Denker sind die Grenzen zwischen diesen beiden Gruppen sowie den Komponisten fließend. Wer will beispielsweise dem Heiligenstädter Testament von Ludwig van Beethoven den literarischen Wert absprechen? Später habe ich in Wien das Zimmer besichtigt, in dem Beethoven in Verzweiflung über seine voranschreitende Taubheit diesen Brief an seine Brüder verfasst hatte. Voller Ehrfurcht dachte ich daran, wie Professor Yan Baoyu uns mit der Übersetzung des Briefes quälte und als Lohn für unsere Mühe nur miserable Noten vergab. 

Schon mal Nietzsche gelesen?

Für uns chinesische Germanisten war es also selbstverständlich, uns auch mit den deutschen Komponisten und Philosophen auseinanderzusetzen. Dabei verkörpert allein Friedrich Nietzsche das Verschmelzen dieser drei Bereiche. Natürlich war Nietzsche in erster Linie Philosoph, dessen „Umwertung aller Werte“ mich stark an den Revolutionsführer Mao Zedong erinnert. Nebenbei komponierte er jedoch und schrieb Gedichte. Vor allem aber verfasste er sein zentrales philosophisches Werk „Also sprach Zarathustra“ in dichterischer Prosa.  

Der Philosoph, der alles in Frage stellte: Friedrich Nietzsche

Mitte der 1980er-Jahre genoss Nietzsche Kultstatus unter den chinesischen Intellektuellen. Weil die westliche Philosophie nach Jahrzehnten der Abschottung generell in Mode war und der damalige Zeitgeist in China alles in Frage stellte. Wer über Nietzsche sprach, wirkte wahnsinnig schlau.

Aber leider haben ja schlaue Frauen seit jeher eine abschreckende Wirkung auf Männer. So wurde ein Verehrer aus einer anderen Fakultät ein wenig blass, als er auf meinem Tisch Nietzsche und Goethes „Faust“ entdeckte – und ließ sich danach nie mehr bei mir blicken.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie „Deutschsein ist kein Zuckerschlecken“ schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.

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